Vertrauen ist das wichtigste

Interview

Ingeborg Soller-Britsch ist Geschäftsführerin des Evangelischen Schulwerks in Württemberg und kümmert sich um 120 Schulen in evangelischer Trägerschaft, die Hälfte davon Berufschulen für soziale Berufe, die anderen allgemeinbildende und Förderschulen. Sie hat am Perspektivpapier „Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung“ der beiden evangelischen Kirchen in Baden-Württemberg mitgearbeitet. Deshalb die Fragen an sie, auch im Nachklapp an den Amoklauf in Winnenden.

Eine US-Amerikanerin fragte mich, warum in Deutschland jedermann ohne Kontrolle in die Schulen hereinspazieren kann. Das sei in den USA unmöglich. Ist diese Idee in die Überlegungen zur Verhütung solcher Katastrophen mit eingeflossen?

„Man muss abwägen, ob man ein offenes Haus haben oder total abgeriegelt sein will. Ich persönlich bin für offene Häuser im Stadtteil und die Schule als Zentrum. Ein Restrisiko bleibt, das sieht man auch in den USA.“

Wie kann man erkennen, wenn ein Kind mit seinen Problemen nicht fertig wird?

„Es gibt eine Grundvoraussetzung und das ist ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Schulkind und Lehrkraft, bei dem man dem Jugendlichen etwas zutraut. Hineinschauen können Sie auch als Profi nicht. Interessieren mich nur die schulischen Leistungen oder will ich das ganze Kind wahrnehmen? Ich freue mich, das sich dieses Selbstverständnis ändert und viele LehrerInnen näher hingucken.“

Sind die Lehrkräfte dafür geschult?

„Manche schon, aber es ist nicht nur eine Frage der Personalentwicklung. In Schulen mit Fachlehrersystem ist es schwieriger als im Grundschulbereich. Aber es gibt Gymnasien, in denen nicht mehr als fünf Lehrkräfte in einer Klasse unterrichten. Da kann man in der Pause Beobachtungen austauschen,  sich gegenseitig informieren und Sie sind handlungsfähig. Voraussetzung ist, dass man sich zuvor auf gemeinsame Ziele verständigt hat. Aber wenn in großen Schulen manchmal 13 Lehrkräfte in einer Klasse sind, können Sie das nicht mehr überblicken. Wir fördern die Wahrnehmungsfähigkeit in Fortbildungen. Es reicht aber nicht, Verhaltensweisen des Individuums Lehrer/Lehrerin zu ändern, es müssen alle mitmachen.“

Sollte jede Schule einen Sozialarbeiter/eine Sozialarbeiterin haben?

„Schön wäre es. Ich meine, die Lehrkräfte müssen eine Grundausstattung an sozialpädagogischen Kompetenzen haben. Die meisten Schulsekretärinnen haben sie als Naturbegabungen und lösen viele Probleme von Bauchschmerzen bis zum Trösten bei Tränen. In Ganztagsschulen und Internaten ist es das Küchenpersonal, das bei Liebeskummer weiterhilft. Zuwendung geht auch über den Magen. In einem ganzheitlich pädagogischen Verständnis kann auch der Speiseplan etwas mit Wertschätzung zu tun haben. Es gibt sehr schöne Beispiele.“

Kann das verlängerte Zusammensein in Ganztagesschulen die Kinder stabilisieren?

„Auf jeden Fall. Aber nicht nur durch Unterricht. Man muss die Zeit nützen für persönliche Gespräche und Zeit haben für Dinge, die im System der Halbtagsschule zu kurz kommen.“

Was ist gut am gemeinsamen Lernen bis zur 9. oder 10. Klasse?

Entscheidend sind die Lernmilieus für Lernerfolge. Professor Bohl hat in seinem Vortrag in der Landessynode sehr schön gezeigt, je homogener die Gruppe ist, desto schlechter sind die Lernerfolge, die die Schule erzielt. In einer homogenen Gruppe kann ich mich nicht am Unterschied messen. Wir lernen an der Differenz.“

Was wünschen Sie sich für den Nachmittag der Schulkinder?

„Die Frage geht davon aus, dass ich den Vormittag und den Nachmittag verschieden gestalte; vormittags normaler Schulbetrieb und nachmittags Freizeit. Wir sind im Positionspapier von der gebundenen Ganztagsschule ausgegangen, in der alle dableiben müssen. Dann kann man rhythmisierende Ganztagsschule machen, das heißt Spannung und Entspannung, Herausforderung und Rückzugsmöglichkeiten. Diese Balance ermöglicht Unterricht und Freizeitangebote im Rhythmus. Wenn Sie sechs Stunden Unterricht am Vormittag und am Nachmittag vier Stunden Sport und Hausaufgaben haben, dann ist der Nachmittag für die Schüler mehr ein Verwahren. Sie sind am Vormitttag überfordert und am Nachmittag unterfordert.
In der rhytmisierenden Form findet zwei Stunden konzentriertes Lernen statt und dann Singen oder in den Schulgarten gehen oder ähnliches. Und dann wieder zwei Stunden volle Kanne lernen und das  nach dem Mittagsloch ab 15 Uhr auch. Wenn die Kinder vorher eine Entspannungsphase hatten, geht das. Sport und Musikschulen und kirchliche Jugendarbeit wird dahinein integriert. Jugendleiter von Vereinen sind sehr willkommen. In der Urspringschule gibt es sogar eine Jugendfeuerwehr.“

Die Fragen stellte Renate Lück


Sowohl das Positionspapier „Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung“ der beiden evangelischen Kirchen in Baden-Württemberg vom 26.9.2008 als auch der Entschließungstext der 14. württembergischen Landessynode vom 13.3.2009 stehen im Internet unter www.bildungsportal-kirche.de in der Rubrik Schule, Ausbildung & Studium.