Evangelisch sein heute

Der folgende Text wurde bei der Mitgliederversammlung der Offenen Kirche am 18. Oktober 2003 beraten und am 13. November 2003 im Leitungskreis der Offenen Kirche beschlossen. Er sollte ein Beitrag der Offenen Kirche sein zum offenen Prozess, den Landesbischof Dr. Maier zu einem Grundkonsens des Glaubens anregte.

  1. Wir sind gemeinsam auf dem Weg des Glaubens. Unser Glaube ist nicht Privatbesitz, er will mit anderen geteilt sein. Er ist kommunikationsfähig. Die Sprache des Glaubens redet menschlich und verständlich von Gott und Welt. Unser Glaube sucht das offene Gespräch mit anderen Christinnen und Christen und darüber hinaus mit Menschen aller Religionen und Kulturen. Er begegnet ihnen mit Respekt.
  2. Unsere Fragen und Zweifel gehören zum Glauben. Unser Glaube hat keine fertigen Antworten. Wir verfügen nicht über die Lösung aller Lebensprobleme, sondern bleiben Lernende und Suchende.
  3. Unser Glaube ist eine Kraft, die Orientierung, Hoffnung und Trost gibt. Er ist vor allem und zuerst Vertrauen zu Gott. Was wahr ist, bewährt sich im Leben als befreiende Kraft (Joh 8, 32). Niemand muss glauben, was er oder sie nicht glauben kann. Unser Glaube verzichtet auf einen Absolutheitsanspruch. Die ganze Breite von Spiritualität und Lebensformen dürfen in der Kirche nebeneinander existieren.
  4. Wir empfangen das Leben als Gabe Gottes und werden bestärkt, das Leben zu bejahen. Das Evangelium von Jesus Christus schenkt uns Lebensmut und befreit davon, mit den eigenen Möglichkeiten unser Heil und das Heil der Welt verwirklichen zu müssen. Unser Glaube vertraut vielmehr den Möglichkeiten Gottes in ihrer befreienden und verändernden Kraft.
  5. Die unendliche Liebe Gottes soll unser Leben bestimmen, und nicht Ängste und Zwänge (l. Joh. 4, 16-18). Gott ist Liebe. Die Liebe zu seinen Geschöpfen kennt keine Grenzen, diese Liebe ist weltumfassend. Das bedeutet für uns, dass wir in aller Unvollkommenheit und Schuldfähigkeit Verantwortung übemehmen können, weil wir darauf vertrauen, dass Gott letztlich alles, was gegen die Liebe steht, überwinden wird.
  6. Wir brauchen tragfähige Gottesbilder, um zu Gott und von Gott reden zu können. Wir wissen auch um die Begrenztheit und Zeitbedingtheit menschlichen Redens von Gott. Wir überwinden die traditionelle Verengung auf ein männliches Gottesbild, wir entdecken die Vielfalt der Gottesbilder neu, auch der biblischen, z.B. in der Rede von Gott als Freundin und Freund.
  7. Die Bibel ist Urkunde des christlichen Glaubens. Sie ist für uns Quelle von Weisheit und Hilfe zum Leben. Menschen haben in der Bibel ihre Erfahrungen mit Gott aufgeschrieben. Viele dieser Aussagen verstehen wir aus dem literarischen und historischen Kontext und fragen, was sie uns heute sagen können. Die Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit dieser Glaubenszeugnisse fordert uns heraus, nach dem Keim des christlichen Glaubens in der Bibel zu suchen. Das Liebesgebot ist dabei für uns Maßstab und Kriterium. Christinnen und Christen glauben nicht an die Bibel, sondern an den Gott, den sie in ihr finden. In all dem besteht für uns die Autorität der Bibel.
  8. Wir würdigen die Vielfalt an Begabungen, Einstellungen und Engagement als Schatz der Kirche. Kirche entdeckt, fördert und fordert Gaben, um dem, was die Reformatoren „Priestertum aller Gläubigen“ nannten, Gestalt zu verleihen. Kirche grenzt niemanden aus, bevormundet nicht, sondern ermutigt und aktiviert zur Beteiligung und Engagement.
  9. Wir engagieren uns für eine Kirche, die nicht auf Herrschaft aufgebaut ist, sondern auf Teilhabe. Zuständigkeiten, Befugnisse und Ämter in der Kirche begründen nicht Hierarchie, sondern mit den übertragenen Funktionen und Aufgaben dienen sich die Teile des einen Leibes Christi gegenseitig und dem Ganzen. Verantwortliche Ausübung von Macht bedeutet nicht Herrschaft, sie beteiligt andere an dieser Macht, sie ermächtigt ihr Gegenüber.
  10. Unser Leben ist Gottesdienst. Gottesdienst findet nicht nur in Kirchenräumen statt. Gottesdienst bedeutet die Präsenz der göttlichen Liebe in Wort und Tat im Alltag. Kirche ist Kirche im Volk. Ihrem Auftrag wird sie gerecht, wenn sie mit und bei den Menschen ist, wie auch Gott im Juden Jesus als Mensch zu den Menschen gekommen ist und sich ihnen zugewandt hat. Deshalb müssen wir unseren Dienst weiten, um zur „Kirche für andere“ zu werden.
  11. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ (Galater 5,1). Wir übernehmen deshalb Verantwortung für das Leben in Gemeinschaft und mischen uns ein in die Gesellschaft. Jesus ging den gesellschaftlichen Konflikten nicht aus dem Weg. Er war denen nahe, die in Umbruchsituationen und am Rande der Gesellschaft lebten. Als Evangelische Christinnen und Christen gestalten wir deshalb in der Nachfolge Jesu die Zukunft von Kirche und Gesellschaft. Wir haben die Vision einer weltweiten, ökumenischen, gewaltfreien Gemeinschaft der Menschen in Frieden und Gerechtigkeit. Die Kirche nimmt als Teil der Gesellschaft immer wieder auch als kritisches Gegenüber ihr Wächteramt wahr und erhebt ihre Stimme für Schutzlose, Ausgegrenzte und Benachteiligte. Den Globalisierungsprozess begleitet sie kritisch und setzt sich ein für die Globalisierung von sozialer Gerechtigkeit, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten, für Demokratie und umweltgerechtes und nachhaltiges Handeln.
  12. Wir bestimmen Standorte immer wieder neu. Das bedeutet, wahrzunehmen, was notwendig ist und zu tun, was nötig ist. Unsere Kirche stellt sich den ständig neuen Herausforderungen, um das Evangelium in der jeweiligen Situation an emessen und glaubwürdig zu leben und weiterzugeben.

Zu dem Thema hielt Frau Füllkrug-Weitzel einen Vortrag bei der Jahresversammlung 2003:

 

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