Abbruch und Aufbruch: Impulse zur Zukunft der Kirche
Eine öffentliche Kirche der Zukunft





Der amtierende Vorsitzende des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen, Heinrich Bedford-Strohm, beehrte am 19. Februar 2025 das Evangelische Bildungszentrum „Hospitalhof“ in Stuttgart mit einem Vortrag zu „Zwischen Aufbruch und Abbruch. Impuls für die Zukunft der Kirche.“
Ausgangspunkt des Vortrags bildete die realistische wie befreiende Erkenntnis, dass sich Kirchenmitgliedschaft heutzutage und hierzulande aus der je eigenen persönlichen Entscheidung der Menschen ergibt. Dies zeige sich insbesondere in zwei Beobachtungen: zum einem trage die Tendenz zur Individualisierung dazu bei, dass man mehr und mehr als Einzelperson zu religiösen Fragen positioniere; zum anderen führe die zunehmende Pluralisierung zu einer wachsenden Akzeptanz, dass verschiedene Weltsichten existieren und auch jeweils ihre nachvollziehbare Herkunft und Berechtigung haben. Eine veränderte Gesellschaft erfordere heute eine ganz andere Basis für die Bewertung der empirisch erhebbaren Daten von Religionszugehörigkeit. Somit sei die momentane Zahl der Kirchenmitglieder deutlich ehrlicher als bspw. vor 50 Jahren. In jedem Fall dürfte man sich, so der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), nicht auf Zahlen fixieren und erst recht keine Rhetorik des Schlechtreden alles Guten und der „Verliebtheit in den Niedergang“ fahren.
Den Kern des Vortrags bildete die Darlegung dreier möglicher Richtungen, in welche die Kirche prinzipiell gehen kann und immer wieder gegangen ist: Modell 1 ist die „Gesellschaftskirche“. Hier versucht die institutionalisierte Kirche, möglichst viel für die Gesellschaft und das eigene Umfeld zu leisten, zielgruppenorientierte Angebote zu machen und sich somit relevant zu machen. Gefahr sei, dass man in der Binnenwahrnehmung die eigene Relevanz überhöhe und durch Anbiederung oder Harmoniestreben mitunter entscheidende und auch herausforderndere Elemente des christlichen Glaubens verkürze. Modell 2 ist die „Kirche im Kontrast zur Welt“. Links wie rechts besteht die Gefahr, sich als der Welt enthobener und ethisch besserer „heiliger Rest“ zu verstehen. Ob asketische Weltflucht oder moralisierendes Prophetentum – starke Abgrenzung birgt das Risiko, illegitime Schwarz-Weiß-Dualismen und falsche Alternativen gegeneinander auszuspielen. Modell 3 ist die „authentische öffentliche Kirche“. Diese stellt sich in aller Offenheit und Demut den jeweiligen Herausforderungen und bringt sich mit profiliertem Selbstbewusstsein und einem gut geeichten Kompass ein.
Der frühere Bischof der Landeskirche Bayern machte keinen Hehl daraus, mit der dritten Richtung zu sympathisieren. Wesentliche Grundhaltung sei hierbei, stets den Unterschied von geglaubter Kirche (die Kirche Jesu Christi durch Raum und Zeit) und empirischer Kirche (die Kirche in der Gestalt der vielen verfassten Kirchen) mitzuberücksichtigen. Inspiration für diesen heilsamen Weit- und Tiefblick finde man immer wieder bei Dietrich Bonhoeffer, der vor 80 Jahren wegen Widerstands gegen das NS-Regime hingerichtet wurde. Der evangelische Theologe und Pfarrer empfiehlt, im christlichen Leben folgendes unter keinen Umständen zu vernachlässigen: 1) Beten; 2) Tun des Gerechten; 3) Warten auf Gottes Zeit. Geduldiges und ungeduldiges Warten meint Hoffen. Hoffen, dass da noch etwas kommt, etwas unwiderstehlich Heilsames, das sich von Gott her am Ende durchsetzen wird.
Die „authentische öffentliche Kirche“, der gesündeste Weg, den einen Kirche einschlagen kann, brauche eine selbstbewusste und profilierte kirchliche Verkündigung und auch Pressearbeit. Diese müsse durchweg geistlich geprägt sein, im Sinne einer offenherzigen „Erweckungsbewegung“, um diesen mit verschiedenen kirchlichen Geschmacksrichtungen verbundenen Begriff zu bedienen. Daraus folgen notwendigerweise Konsequenzen für die Kirchenentwicklung: 1) Durch Sein in der Liebe ist missionarische Kraft zu entwickeln; 2) Christen sollten im Alltag radikal lieben und Gutes tun; 3) Der Mensch muss als Selbstzweck gesehen werden, da er Gottes Geschöpf ist und nicht als Objekt potenziellen Missionserfolges herhalten kann. Anerkannt werden müsse die Sehnsucht einer/s jeden nach Heil und ganzheitlicher Geborgenheit.
Dies alles steht selbstredend im Horizont der Ökumene, denn Christus ist der Herr aller Menschen. Wer in einem fremden Kontext seine Mitchristen mit „Dear sisters and brothers“ anspricht und in die eigene Komfortzone zurückkehrt, kann nicht allen Ernstes vergessen, für eben diese Glaubensgeschwister – oder allgemeiner: Mitgeschöpfe – zu beten und für sie das eigene Handeln an Gerechtigkeit und Verantwortung auszurichten. Es gelte, diese unbändige Kraft der Frömmigkeit den heutigen Menschen zu erschließen. All das sei keine philosophisch-theologische Theorie, sondern habe immer und überall direkt mit dem Leben zu tun.
Bestätigung findet Bedford-Strohm in der Glücksforschung. Diese empfiehlt bspw. Dankbarkeit. Ist nicht Psalm 139,14 („Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin“) eine mögliche Antwort darauf? Mit Psalmen und Liedern wird im Gottesdienst Woche für Woche Dankbarkeit eingeübt. Dies gehe nicht allein mit Büchern und Ratgeberliteratur. Praktisch gelebte Frömmigkeit sei gleichsam eine Antwort auf Studien der Glücksforschung. Diese empfiehlt u.a., zu vergeben und zuversichtlich zu sein. Hier bedürfe es selbstverständlich einer profunden Zuversicht, welche die menschlichen Abgründe kenne und in ein großes christliches Hoffnungsnarrativ eingebettet sei: von der Erfahrung, dass Gott sich in der Sintflut durchringt zum Versprechen „Es soll nicht aufhören Saat und Ernte …“ über die Erfahrung der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten bis zur Rückführung aus der Babylonischen Gefangenschaft, die erst aussichtslos erscheint und dann doch durch Gottes Propheten angekündigt wird, die frische aufblühende Wiesen verheißen. Schließlich stehe die Erzählung von Jesu Sturmstillung hochsymbolisch für eine absolute seelische Ruhe, die sich im Vertrauen auf den einstellen kann, der einer immer getriebenen Unruhe mit göttlicher Autorität Einhalt gebieten kann.
Einen möglichen Einwand vorwegnehmend, „öffentliche Kirche“ sei zu politisch, entgegnet Heinrich Bedford-Strohm mit der wichtigen Einsicht, dass sich politische Kirche aus der Lektüre des Evangeliums ergibt und mit der heilsamen Warnung, sich vor einer Politisierung des Glaubens zu hüten, der derzeit in vielen Ländern vonseiten politischer Akteure aktiv vorangetrieben wird. Das Hertragen des Glaubens für fremde Zwecke sei feige und bigott. Stattdessen müsse es darum gehen, sich persönlich und kollektiv – von Schwester zu Bruder – den Herausforderungen der Zeit und der verantwortlichen Bibellektüre zu stellen: „Sag mir, wie du deine biblischen Texte liest!“ Wenn wir allesamt mit dem ringen, was uns aufgetragen ist und uns alle angeht, wird unser Sprechen schärfer, unser Glauben kräftiger und unser Handeln lebendiger. Mit Moralismus dürfe dieser Lifestyle nicht verwechselt werden. Schließlich geht es bei aller nötiger und dringlicher Welt- und Schöpfungsverantwortung – entgegen wiederkehrender Vorurteile – nicht um das Verbieten des Spaßigen. Ganz im Gegenteil: Gerade weil wir Christenmenschen dankbar und lebensfroh sind, wollen wir, dass diese Welt nicht den Bach hinunter geht.
Bericht: Pfr. Benedikt Jetter, Fotos: Matthias Hestermann